Ab jedem einzelnen Punkt setzten sich die Linien nicht nur in ihrem ursprünglichen Vektor fort, sondern zweigten ab und führten zu weiteren Punkten, an denen ebenfalls weitere Abzweigungen entsprangen. Der Datenstrom war noch jung, das Projekt erst seit 6 Wochen in Produkttestphase 1. Entsprechend gering war das vorhandene Datenvolumen. Die Datenbank umfasste lediglich ein paar Gigabyte und enthielt neben den Forschungsdaten der Universität nur einige wenige persönliche Daten von freiwilligen Teilnehmern an der Studie sowie jenen der beteiligten Wissenschaftler. Dennoch war das entstandene Netz bereits sehr ansehnlich und weit verzweigt. Sergej erlaubte sich einen kurzen Moment der Freude; das System hatte, völlig ohne Anleitung und menschliche Hilfe, auf den ersten Blick alle Knotenpunkte korrekt miteinander vernetzt. Der Algorithmus schien zu funktionieren. Das System konnte, ohne menschliche Eingaben, den Faktor Mensch eigenständig erkennen, Querverbindungen erkennen und sie korrekt zuordnen. Als Basis diente dem System ein komplexer Algorithmus, an dem Sergej, Ilja und ihre Kollegen die letzten 7 Jahren unermüdlich gearbeitet hatten. Ihre Aufgabe hätte nicht unmöglicher sein können: einen Algorithmus zu erschaffen, der selbständig menschliches Verhalten analysieren und darstellen konnte, ohne weitere Angaben von außen. Es hatte in den letzten 7 Jahren mehrere Situationen gegeben, in denen Sergej kurz davor gewesen war, alles hinzuschmeißen. Zu unmöglich schien die Aufgabe. Der Code für das System enthielt über 14 Gigabyte an Anweisungen, 98 Gigabyte an Codebibliotheken für spezifische Anwendungsfälle und eine Datenbank von einprogrammierten, menschlichen Verhaltensweisen von über 320 Gigabyte. Ein massives Projekt, für dessen korrekte Ausführung hochentwickelte, massiv aufgerüstete und überaus teure Hochleistungsrechner notwendig waren. Zudem kam Sergejs Meisterstück, der Teil, auf den er wirklich stolz war. Eine Subroutine, die selbst mehrere Gigabyte in Anspruch nahm und das System in die Lage versetzen sollte, selbständig zu lernen, wie eventuell noch nicht in der Datenbank vorhandene menschliche Verhaltensweisen korrekt zu bewerten und einzuordnen waren. Ein Indiz dafür, dass diese Subroutine funktionierte, hatte er bereits entdeckt. Mit der entsprechenden Geste des Sensorhandschuhs zoomte er einen ganz bestimmten Knotenpunkt des Displays näher heran. Das Display veränderte sich und der Knotenpunkt sprang auf, öffnete sich zu einer Übersicht und neben einigen Zeilen Text erschienen zwei Fotografien. Die Bilder zeigten ihn und eine Kollegin und darunter einen einzigen Satz: „Wahrscheinlichkeit einer sexuellen Beziehung aufgrund beobachteter Verhaltensweisen und Analyse durch MOOS: 98,3%“. Sergej, sonst das Bilderbuchbeispiel eines professionellen Stoikers, lächelte und seine Augen glänzten stolz. Ilja sah ihn verwundert an und näherte sich dem Display, um die Anzeige sehen zu können. „Du hast was mit Iryna?“, sah ihn Ilja ungläubig an. „DU? Das muss ein Irrtum sein. Komm schon, das kann nicht stimmen. Die ist so weit außerhalb deiner Liga, das System muss sich irren.“, sagte er. Sergej lächelte nur. „Ich habe meinen Namen gehört?“, sagte Iryna und sah die beiden fragend an. Ilya sah zunächst Iryna an und dann Sergej. Sein Blick wanderte von der 24jährigen, bildhübschen Iryna mit dem Körper eines Models und dem brillanten Geist einer begnadeten Forscherin zu Sergej, dem 58jährigen Leiter der Abteilung mit grauen, ungebändigten Haaren und unverwechselbarem Look des zerstreuten Professors.

Von badidol

badidol wurde 1981 geboren. Er arbeitet seit fast 20 Jahren im und am Internet als Community Manager (fast 15 Jahre beim selben Arbeitgeber), Social Media Manager, Moderator und verkauft dabei Eskimos Kühlschränke. Er spricht fließend Sarkastisch. In der Jugend linke Socke, als junger Erwachsener eher sozialliberal und mittlerweile von konventionellen Schubladen genervt. Atheist, Pragmatiker und Realist.

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