Vor einiger Zeit, als “OMG, Musk kauft Twitter!” noch ungewisses Gerücht bei den Einen und Befürchtung des Weltuntergangs bei den Anderen war, hatte ich bereits einen Artikel darüber geschrieben, was sich wohl alles verändern würde. Angesichts der aktuellen Sperrwelle gegenüber mehreren Accounts, darunter auch einige Journalisten, und dem Vorwurf des Doxings diesen gegenüber, scheint es an der Zeit für eine 2. Runde der Betrachtung.
Musk und die Meinungsfreiheit
Meinungsfreiheit ist für Musk immer die Triebfeder gewesen. Umso merkwürdiger mutet es nun an, wenn Twitter unter seiner Führung scheinbar willkürlich kritische Stimmen zum Schweigen bringt. Unter Anderem auch genau jene, von denen er von Anfang an sagte, er würde sie nicht sperren lassen, wie z.B. den Account, der die Flugdaten seines Flugzeugs twitterte. Auch wurde der offizielle Twitteraccount von Mastodon gesperrt, sowies das Tweeten von Links, die zu Mastodoninstanzen führen, verhindert.
Es ist relativ nachvollziehbar und normal, wenn ein Plattformbetreiber Links zu anderen Plattformen, die in teilweise direkter Konkurrenz zu ihm stehen, nicht auf seiner Plattform dulden möchte. Natürlich könnte man jetzt sagen, mit Twitter hat man doch quasi schon die wertigste und größte Plattform und man wäre kleinlich, wenn man jetzt andere aussperrte. Fakt ist allerdings auch: niemand muss Werbung für Konkurrenten auf der eigenen Plattform dulden.
Meinungsfreiheit ist mithin eines der höchsten Güter und sie zu schützen, ist wichtig. Das heißt aber eben nicht, dass alle alles sagen dürfen müssen. Es gibt Dinge, wie z.B. die Geolocationdaten von Einzelpersonen, egal ob Celebrity oder nicht, die meines Erachtens nicht zwingend jeder überall hin posten dürfen muss. Dass nach US amerikanischem Recht hier ein Unterschied zwischen den öffentlich zugänglichen Flugdaten und den Geolocationdaten der Person selbst gemacht wird, ist unterdessen an Albernheit kaum zu überbieten. Wenn ich weiß, wo jemand hinfliegt, weiß ich in der Regel zumindest auch grob, wo dieser Jemand ist.
Doxing ist kein Kavaliersdelikt
Indes steht auch der Vorwurf des Doxings im Raum. Doxing ist, da fehlen mir auch die eloquent-diplomatischen Worte, schlicht scheiße. Doxing ist nicht in Ordnung und ich empfinde es auch nicht als Kavaliersdelikt, gezielt personenbezogene Daten zu Einzelpersonen zu leaken. Und zwar völlig egal, wer leaked und über wen geleaked wird. In der Vergangenheit haben mir oft viele Menschen ihr Leid geklagt: sie würden gedoxed. Oft waren dies eher links stehende Bekannte, die Doxer, laut deren Angabe, durchwegs böse Nazis. Hier war Doxing noch böse: nur faschistoide Extremisten taten es und es war grundsätzlich zu verabscheuen. Es sind heute oft dieselben Personen allerdings, die jetzt im Falle Musk eine gänzlich andere Meinung vertreten. Schließlich seien all dies öffentlich zugängliche Daten und man habe ja auch nur zu einer Quelle verlinkt und nicht selbst Daten veröffentlicht. Zudem sei er als Person des öffentlichen Rechts da ja nicht mit ihnen zu vergleichen.
Man fand also gar nicht das Doxing schlimm, sondern, dass man selbst das Ziel war. Diese Art von Hybris begegnet mir in letzter Zeit sehr häufig und sie ist nicht schön. Im Gegenteil: sie ist ein Charakterzug, der mich manche Bekanntschaft überdenken lässt. Wäre das Doxing-Ziel hier nicht Musk, sondern beispielsweise Luisa Neubauer, sähen vermutlich sehr viele derer, die hier bei Musk kein Problem sehen, durchaus eines im Doxing.
Dabei wäre es doch eigentlich gar nicht schwierig: wenn man Doxing schlimm findet, dann sollte es völlig irrelevant sein, wer Ziel und wer Täter ist. Dann bleibt es, unabhängig von Ziel und Täter, eine inakzeptable Methode.
Trial and Error – in der Produktivumgebung
Mein größtes Problem mit Elon Musk derzeit ist nicht so sehr, was er tut, sondern wie er es tut. Musk als Chef zu haben muss zumindest mal schwierig sein. Er möchte alles am Besten sofort und selbstverständlich exklusiv so, wie er es für richtig hält. Nun, er hat sich den Laden gekauft und zwar für teuer Geld. Er ist nun der Chef, er hat das Sagen. Nicht immer jedoch ist es gut und sinnvoll, wenn der Besitzer eines Unternehmens meint, er müsse sich in jeden Teilbereich einmischen. Dieses sogenannte Micromanagement führt nur allzu oft zu merkwürdigen, teils unangenehmen Nebenwirkungen.
So geschieht es in letzter Zeit häufiger, dass Features, Änderungen und Bugs wie aus dem Nichts auftauchen. In der Liveumgebung testet man normalerweise nicht oder nur sehr ungern. Twitter hat das auch vor Musk schon gerne mal anders gehandhabt, aber seit Musks Übernahme habe ich persönlich zumindest das Gefühl, dass niemand dort mehr weiß, wie man sich im Test-Twitter einlogged. Auch halte ich es nur für sehr wenig sinnvoll, wenn der CEO mit seinem Privataccount auf Twitter selbst Polls zu Features stellt. Da fühlt sich nichts nach Planung an, dafür aber so gut wie alles nach Chaos und “Machen wir mal, irgendwas wird schon passieren.“. Das wiederum scheint das Musk’sche Erfolgsmodell zu sein, wenn man sich seine anderen Unternehmen und seinen Werdegang so anschaut. And it’s hard to argue with success.
Dieses Micromangement hat wiederum, nach meinem Dafürhalten, im Customer Management nichts zu suchen. Die Sperren der Journalisten zum Beispiel scheinen mir eine arge Überreaktion zu sein. Sollten hier Journalisten wirklich gedoxed haben, so sind sie natürlich auch entsprechend zu sanktionieren. Ob nun wirklich jeder Gesperrte auch etwas auf dem Kerbholz hat…Sperren bei Twitter sind traditionell nur bedingt transparent und plausibel und gerade dies hat sich auch mit Musk meines Erachtens nicht spürbar verändert.
Die große Alternative Mastodon
Wer indes Mastodon als Alternative hypen möchte, hat Mastodon entweder nicht verstanden oder ist ein großer Nerd und hyped es deswegen. Eine eigene Mastodoninstanz braucht nicht viel. Domain, Server, Docker. Fertig. Deswegen taugen die meisten Instanzen auch nichts. Jeder, der einen Server hat und auf Knöpfe drücken kann, kann eine Instanz aufsetzen und dort – aus natürlich guten Ansichten und Absichten heraus – genau das tun, was er Musk bei Twitter vorwirft.
Die meisten neuen Mastodon-Fans haben Mastodon allerdings auch schlicht nicht verstanden. Es ist dezentral. Das ist der komplette USP des Ganzen. Das heißt aber eben auch: statt eines Elon Musk mit Gottkomplex und unsteten Reaktionen hat man nun mindestens so viele, wie es Instanzen gibt. Und manch Instanzbetreiber lässt Musks Willkür noch harmlos erscheinen. Insbesondere viele Betreiber, die einerseits Toleranz predigen, tolerieren auf ihrer eigenen Plattform keinerlei Widerworte. Viele lassen Einen gar nicht erst herein, wenn man auf Twitter “den falschen Leuten” folgt. Zudem gibt es eben nicht das eine Mastodon: es gibt so viele Instanzen, dass mittlerweile die Übersicht verlorengegangen ist. Jemanden zu finden, erfordert auch die Kenntnis der Instanz. Vor Allem aber erfordert es, dass der Betreiber in den Settings auch nichts ausgeschaltet oder verändert hat, das diese Cross Instance Capability ermöglicht. Man kann das grundsätzlich auch abschalten, so dass die Instanz komplett autark ist.
Zudem ist die Nutzerführung und die User Experience von Mastodon extrem gewöhnungsbedürftig. Nerds lieben das sogenannte Fediverse aufgrund genau der Dinge, die es für den Otto-Normal-Nutzer unansprechend, kompliziert und uninteressant machen. Gleichzeitig mangelt es denselben Nerds oft am Verständnis dafür, warum der Otto-Normal-Nutzer dann eben doch bei Twitter bleibt.
Was gibt es sonst noch außer Twitter?
Wer mit aller Gewalt von Twitter weg möchte, dem stehen viele Alternativen offen. Zum Einen wäre da eine Myriade unterschiedlicher Mastodoninstanzen. Die Vor- und Nachteile Mastodons aus meiner Sicht habe ich ja bereits angesprochen.
Außerdem zu nennen wäre noch post.news: eine Plattform, die sich anscheinend vornehmlich an Journalisten richtet, aber schnell auch durch Twitter geteilt wurde und demnach auch andere Nutzer hat. Vom Look and Feel her erinnert sie stark an Twitter. post.news fühlt sich relativ lebendig an und die Mehrheit der Nutzer scheint die Plattform auch als eine zu verstehen und zu nutzen, auf der man Nachrichtenbeiträge posten soll.
Mit Hive Social steht eine Plattform am Start, die als “App only” daherkommt: man kann sie tatsächlich nur als App nutzen, die Webseite dient nur als Landingpage, von der aus man zum Appdownload animiert wird. Hier scheint aber alles noch derart “Beta” zu sein, dass ich es eher Alpha nennen würde. Hier passiert exakt nichts. Zumindest nichts, was man auch mitbekäme.
Bereits etwas länger bekannt dürfte Gettr sein. Getter steht wiederum in der Kritik, am selben Scheuklappen-Syndrom zu leiden wie Twitter, nur von der anderen Seite. Und tatsächlich war die Plattform in den 20 Minuten, in denen ich sie mir angeschaut hatte, dermaßen voll von MAGA, Trump und Far-Right Content, dass ich die Recherche an dem Punkt dann abbrach. Gettr ist ähnlich eklig wie die nächste Plattform in der Liste.
Noch länger bekannt als Gettr ist gab.ai. Auf Twitter wurde es relativ schnell relativ ruhig um gab. Wie dem auch sei: für eine lange Zeit war es auf Twitter so, dass Accounts mit dem berühmt-berüchtigten gab.ai im Anzeigenamen unerträglichen Schwurbel aus der rechtsextremen Ecke verbreiteten. gab.ai im Nick war ein zuverlässiges Erkennungsmerkmal.
Donald Trump wollte auch einmal eine Social Media Plattform starten. Auf Truth Social sollte endlich einmal die volle Wahrheit ohne Zensur gesagt werden können. Ganz getreu seines Mottos “America First!” jedoch kann die Plattform außerhalb der USA nicht genutzt werden. Und ganz ehrlich…Trump ist mir nicht die vergleichsweise geringe Mühe wert, mir das mit einem VPN anzuschauen.
Fazit
Musk tut, was Musk tut. Dieses Credo galt schon immer und es kann niemanden verwundern, dass es das auch in Bezug auf Twitter tut. Immerhin ist das die eine große Konstante in Bezug auf Musk.
Was Musk sich ankreiden lassen muss, ist, dass auch er eben nicht so neutral und offen ist, wie er sich gerne gibt und wie er es gerne hätte. Ich will ihm gerne glauben, dass er selbst glaubt, dass er das ist. Fakt ist aber: kein Mensch ist das. Das, woran Musk jetzt scheitert, ist Druck. Druck, der unweigerlich kommen musste, denn Musk war bekannt, Musk ist ego- und exzentrisch und Musk ist eine durch und durch streibare Person. Nichts von all dem, was nun passiert, ist verwunderlich. Alles davon war erwartbar. Die Einen stilsieren ihn als Helden aller Helden, die Anderen hassen ihn, als sei er Satan höchstpersönlich. Dazwischen gibt es nicht viel.
Musk ist eben kein Gott. Er ist fehlbar. Weil er eben auch nur ein Mensch ist. Der Druck in Kombination mit einer gefühlten – und zum Teil auch nicht zu Unrecht als solcher wahrgenommenen – Bedrohungssituation für sein Kind und seine Familie führt zu Überreaktionen. Angesichts mancher Situation ist dies auch nicht weiter verwunderlich und sehr nachvollziehbar. Das Musk nun, wo er die Möglichkeit dazu hat, dann von seinem sonstigen Credo abweicht, ist beides: nachvollziehbar und falsch zugleich. Nachvollziehbar, weil jeder seine Familie schützt, so gut er kann. Ihm dies zum Vorwurf machen zu wollen, ist naiv. Falsch, weil er überreagiert. Das wiederum ist inhärent Musk’sches Verhaltensschema. Elon kennt keinen middle ground, das wissen wir schon länger. Musk will alles oder nichts und Musk scheut sich nicht davor, Knöpfe, die er hat, auch zu drücken. Es war utopisch, zu glauben, Musk sei da anders. Natürlich priorisiert auch er. Und diese Prioritäten setzt ausnahmslos jeder Mensch mitunter nun mal auch nach Gefühl und damit willkürlich. Dass seine Familie hier höhere Priorität hat als sein mitunter übersteigert anmutender Einsatz für die Meinungsfreiheit, macht ihn fast sympathisch.
Kein Eisberg in Sicht – Untergang verschoben
Am Ende bleibt dennoch meine Einschätzung aus dem April unverändert: im Großen und Ganzen ist alles unverändert. Auch Musk war – bisher – nicht der Untergang Twitters. Und in manchen Punkten, wie z.B. der Wirtschaftlichkeit Twitters, hat er deutliche Akzente zur Verbesserung gesetzt. So gab Twitter z.B. zuvor absurde Summen pro Kopf für die Verpflegung der Belegschaft aus. Auch hatte Twitter massiven Overhead: es hatte schlicht zu viele Mitarbeiter.
Den gern prophezeiten Untergang Twitters vermag ich nach wie vor nicht zu sehen. Alles ist ein wenig nerviger geworden:
- Musk liebt Trial and Error. Das ist nervig, denn Tests in der Liveumgebung geben ein unschönes, unstetes Bild der Software ab. Testet in der Testumgebung. Dafür ist sie da.
- Musk macht Versprechungen, die er unter Druck dann nicht hält. Das macht ihn zunächstmal menschlich. Es nervt aber auch, denn er macht diese Versprechungen mit der Attitüde desjenigen, der sich über Allem erhaben sieht.
- Eine Menge Accounts, groß wie klein, machen großspurige Ankündigungen, dass sie nun endgültig Twitter verlassen. Viele davon nicht zum ersten Mal. Selbst die, die gehen, kommen häufig irgendwann wieder. Wenn Ihr gehen wollt, dann geht. Aber erspart uns doch bitte künftig diese Ankündigungen. Die wenigsten Menschen, die großspurig derlei ankündigen, sind auch außerhalb ihrer eigenen Wahrnehmung “wichtig genug”, dass es auch wirklich wen interessiert.
Reicht das, um den Untergang Twitters darin zu sehen? Mitnichten. Mancher mag es nicht zugeben wollen, aber im Grunde ist das alles nur eines: business as usual.