Eines gleich vorneweg: dieser Beitrag wird Einige triggern. Ich beschreibe hier meine für mich selbst getroffenen Entscheidungen, meine für mich selbst geltenden Antworten auf die Frage “Wie möchte ich leben und ab wann empfinde ich es als nicht mehr lebenswert?” und diese Bewertung kann und wird sich nicht zwingend mit der jedes Anderen decken. Das ist absolut in Ordnung. Wir sprechen hier über Dinge, die jeder für sich selbst entscheiden muss. Über Dinge, über die aber leider zu viele nicht nachdenken. Der Tod, als finaler Part, gehört jedoch unmittelbar zum Leben und man sollte sich mit ihm beschäftigen, solange noch Zeit dafür ist.

Es war einmal, vor langer Zeit…das Leben

Der aufmerksame Leser wird wissen, dass ich – was Berufe und Lebensabschnitte angeht – eine relativ bewegte Vergangenheit habe. Bevor ich meinen Lebensunterhalt damit verdiente, mich täglich für Dinge zu entschuldigen, die nicht meine Schuld sind, verdingte ich mich, unter Anderem, auch im medizinischen Bereich. Zuerst in der Pflege, dann in der Radiologie. Gerade in der Anfangszeit, als junger Erwachsener, gerade erst der Schule enteilt, war ich extrem beeindruckt davon, was in der Medizin so alles ging. Da wurden Menschen aus Lebenslagen “gerettet“, die ausweglos erschienen. Heute, mit ausreichend Abstand und Lebenserfahrung, würde ich nicht mehr jede Rettung, an der ich Teil hatte, auch als solche bezeichnen.

Um zu verdeutlichen, was ich meine, möchte ich nur kurz ein oder zwei Beispiele aus dieser Zeit nennen.

Der fliegende Fernseher

Ich war noch sehr jung, gerade einmal 19 oder 20 und als Zivildienstleistender im Krankenhaus. Die Wunder der Medizin umgaben mich auf allen Seiten und tagtäglich war ich Zeuge dessen, was die moderne Medizin zu vollbringen imstande war. Ein Patient bleibt mir dabei immer in lebendigster Erinnerung.

Ein Mann zwischen 30 und 40 sah sich mit Freunden ein Fussballspiel an. Bayern München gegen Barcelona, wenn mich die Erinnerung nicht täuscht. Er war Bayernfan. Wie man das als guter, deutscher Fussballfan so macht, wurde bei dieser Gelegenheit eine Menge Bier getrunken. Eine Menge…das hieß bei Einlieferung ein Wert von 3,8 ‰. Ein Promille-Wert, bei dem die allermeisten Menschen schon längst nicht mehr imstande wären, überhaupt die Augen offen zu halten. Bei sehr regelmäßigem Konsum sehr großer Mengen an Alkohol jedoch ist es durchaus möglich, solche Werte zu haben und noch halbwegs funktionsfähig zu sein. Wie dem auch sei…der Mann war also sehr betrunken und zudem Bayernfan. Als Bayern 2 Tore zurück lag, konnte er es nicht mehr ertragen. Er warf seinen Fernseher aus dem Fenster. Nur wenige Sekunden später offenbarte sich ihm, dass das eine sehr dumme Idee war und er diesen ja noch brauche. Er tat, was jeder alkoholumnebelte Jungsuperheld täte: er sprang dem Fernseher hinterher, um ihn zu retten. Was die Sache bemerkenswert machte, war, dass er im 5. Stock eines Wohnblocks lebte.

206 Knochen und die meisten davon gebrochen

Im Allgemeinen wird auf die Frage “Wie viele Knochen hat der Mensch?” die Zahl 206 genannt. So wirklich abschließend und eindeutig beantworten lässt sich die Frage nicht, denn mancher Knorpel verknöchert erst im Laufe der Zeit und wird dann entweder als Knochen mitgezählt oder eben nicht.

Ungeachtet dessen brach sich der Mann im obigen Beispiel eine hohe Anzahl davon bei seinem Stunt. Jede einzelne dieser Frakturen wäre, für sich allein genommen, schon hinreichend eklig gewesen, aber gleich alle davon in einem Rutsch stellte uns vor Herausforderungen. Um nur ein paar wenige davon zu nennen: diverse Frakturen des Schädels, Jochbein, Nase, sowie mehrere Rippen, ein Schlüsselbein, Acetabulum, Oberschenkel…aus ca. 12-15 Metern Höhe auf den Asphalt zu donnern, lässt nicht viel heil. Wenn so ein Patient in deinen Schockraum kommt, hat jeder was zu tun. Die Vitalwerte ein Chaos, aber noch irgendwie vorhanden, der Schädel eine Trümmerwüste, aber irgendwie noch alles mehrheitlich da, wo es sein soll. Innere Blutungen, offene Frakturen…kurzum: der Mann hatte es gefühlt hinter sich. Wenn jemand ein Bild für den Lexikoneintrag des Wortes Polytrauma gebraucht hätte, da wäre er fündig geworden.

Der Mann war gute 9 Monate bei uns im Krankenhaus, bevor er in die Reha entlassen werden konnte, in der er vermutlich noch viele weitere Monate verbracht hat. Wenn ich zurückdenke, wieviel an und mit ihm geschraubt, gegipst, genagelt, etc. wurde und wie lange es dauerte, bis er überhaupt mal wieder wach wurde, sprach, etc., bin ich mir nicht mehr sicher, dass ich das immer noch für eine tolle Leistung der Medizin halte. Zumindest nicht, wenn ich mir überlege, ob ich mir das für mich selbst in dem Fall auch gewünscht hätte. Auf Jahre hinweg darauf angewiesen zu sein, dass Andere jeden einzelnen Aspekt meines Lebens managen, erscheint mir persönlich nicht erstrebenswert.

Wieviel Leben ist Leben?

Wie viel muss man selbst noch können, um das eigene Leben als lebenswert zu betrachten? Wie viel muss man selbst davon überhaupt mitbekommen? Diese Frage muss jeder für sich selbst beantworten. Mich persönlich ängstigt zuweilen, was so möglich ist. Maschinen können für uns atmen, den Herzschlag ersetzen und Vieles mehr. Menschen liegen in Betten, nicht ansprechbar, nicht bei Bewusstsein, nicht fähig, selbst zu essen oder zu trinken oder sich gar selbst umzudrehen und auf lange Sicht werden sie auch nicht wieder dazu fähig sein. Oder es ist unklar, ob sie jemals wieder dazu fähig sein werden. Sie sind nicht tot, aber leben sie wirklich? Was genau ist Leben? Genügt es, einen Herzschlag zu haben? Hirnströme? Atmung? Ab welchem Punkt sagen wir “Das wird nichts mehr.”?

Ich habe diesen Punkt für mich selbst relativ klar definiert und habe sowohl eine Vorsorgevollmacht als auch eine Patientenverfügung. Im Zweifel ist es auch irgendwann halt einfach vorbei und dann muss ich da auch nicht mehr künstlich am “Leben” erhalten werden. Insbesondere, wenn ich davon nichts mitbekomme, nichts habe und es fraglich ist, ob ich jemals wieder irgendwann ohne Maschinen und Schläuche anderen auf die Nerven gehen kann.

Und plötzlich macht es puff…

Mein letztes Beispiel ist meine Großmutter. Auf der Beerdigung einer Verwandten erlitt sie einen Schlaganfall. Trotz vorbildlicher Reaktion aller Beteiligten von Ersthelfern bis zu RTW und Krankenhaus, es kam, wie es vermutlich kommen musste. Hemiparese, Beeinträchtigung, bleibende Schäden. Wir logen uns in die eigene Tasche und feierten jeden noch so kleinen Fortschritt, aber im Nachhinein betrachtet: ohne Hilfsmittel und Hilfspersonen konnte sie nie wieder laufen. Sich selbst waschen oder den Toilettengang alleine vollziehen. Alleine essen war nur bedingt drin, geschweige denn, selbst etwas zuzubereiten. Mein Großvater pflegte sich selbst 13 Jahre an ihr zu Tode und verstarb eines Morgens an einem Hinterwandinfarkt. 13 Jahre lang rückte sein Leben in den Hintergrund, bis er selbst keines mehr hatte.

In diesen 13 Jahren erlitt meine Großmutter 3 weitere Schlaganfälle und vermutlich mindestens 4-5 TIAs. Meine Großeltern waren da recht simpel gestrickt: Leben ist Leben. Tot ist halt erst, wenn nix mehr geht. Im Nachhinein betrachtet, bin ich mir nicht sicher, ob es für Oma nicht besser gewesen wäre, wäre sie direkt am Tag des ersten Schlaganfalls gestorben. Sie war bis dahin eine aktive Frau, die ihre Zeit im Garten, mit ihren Enkeln, mit Kochen und Backen und mit extrem viel Handarbeit verbracht hatte. Von jetzt auf gleich ging für sie nichts davon mehr. Und ging auch nie wieder. Egal, wie viele Fortschritte sie machte, letztlich war ihr altes Leben vorbei. Nach dem Tod meines Großvaters nahmen wir sie bei uns auf und pflegten sie weiter. Das ging eher so minder gut. Ich war berufstätig, meine Eltern selbständig. Meine Mutter war keine Pflegekraft. Oma entwickelte Dekubiti, brauchte chirurgische Versorgung, baute langfristig ab, denn jünger wurde sie ja natürlich auch nicht.

Verlieren ist nicht einfach

Meine Mutter war leider wie meine Großeltern. Was man “retten” konnte, war zu retten. Vor Allem auch, auch wenn sie das nie zugegeben hätte, weil sie mit Verlust einfach nicht klar kam. Tatsächlich war das egoistisch und nicht zum Besten meiner Oma. Eines Nachts begann Oma dann, so “komisch” zu atmen und natürlich wusste ich, was das bedeutete. Am nächsten Morgen rief meine Mutter den Krankenwagen. Ich fuhr mit.

Schwere Entscheidung für Andere, leichte Entscheidung für sich selbst

Die Entscheidung pro oder contra Reanimation ist nie leicht. Vor Allem nicht, wenn man sie für Dritte trifft. Ich bin dennoch froh, dass ich damals mit Oma ins Krankenhaus mitfuhr, statt meiner Mutter. Meine Mutter hätte sie nicht gehen lassen.

Ab einem gewissen Punkt muss man sich fragen, für wen man tut, was man tut und wie sich welche Entscheidung für wen auswirkt. Die Entscheidung, direkt in der Notaufnahme zu sagen “Nicht reanimieren, wenn es soweit ist.“, fiel mir leicht. Und sie fiel mir schwer. Klar war: es würde Vorwürfe hageln, vor Allem von der Mutter. Klar war auch: das war seit Jahren schon nicht mehr Oma. So viele Ischämien und der Lauf der Zeit…das hatte Tribut gefordert. Und klar war auch: wollte ich wirklich das Leiden meiner Oma verlängern, nur, damit wir Hinterbliebenen uns nicht mit einem Verlust auseinandersetzen mussten? Die Frau hatte mich großgezogen, als meine Eltern beide ihren Vollzeitjobs nachgingen. Hatte sie das verdient? Nein.

Irgendwann erwischt es uns alle

Niemand lebt ewig. Es gibt wenig, das im Universum so gewiss ist, wie die Endlichkeit des Lebens. Niemand beschäftigt sich gerne damit, dass unser Leben irgendwann einmal zu Ende geht. Dennoch ist der Tod Teil des Lebens. Er gehört dazu. Wir sollten uns mit ihm beschäftigen, denn der Weg bis dahin kann sehr unterschiedlich ausfallen und wer nicht vorsorgt, hat mit Pech wenig Selbstbestimmung darüber übrig, wie dieser für einen selbst ausfällt.

Ich habe als “Mann vom Fach” eine recht gute Vorstellung davon, was so alles möglich ist. Wie das von außen aussieht. Und eine recht gute Horrorvorstellung davon, wie es sich vermutlich von innen anfühlt. Ich weiß, dass ich das nicht möchte. Ich möchte das weder für mich selbst, noch möchte ich meiner Frau zumuten, sich überlegen zu müssen, was ich wohl gewollt haben könnte. Aus diesem Grund habe ich recht klar geregelt, was mit mir wie zu geschehen hat. Eine Patientenverfügung (Informationen hierüber bieten z.B. hier die Malteser) ist online sowie papierhaft jederzeit greifbar und selbst das Danach ist via Sterbeversicherung und Bestattungsvorsorge geregelt.

Plötzlich und unerwartet…der Schrecken unserer Zeit

Dabei machen wir uns selbst leider auch viel vor: denn auch, wenn die moderne Medizin unsere Lebenserwartung stetig nach oben “korrigiert“, niemand stirbt mit über 60 noch plötzlich und unerwartet. Je älter wir werden, desto wahrscheinlicher wird es, dass wir sterben. Vor 200 Jahren hieß das noch, dass man mit 40 schon als quasi uralt galt und bald den Löffel abgeben würde. Seither hat sich viel getan und dank Fortschritten bei Medizin und Hygiene sterben Menschen nicht mehr so einfach, wie noch vor 2 Jahrhunderten. Eine Blinddarmentzündung war damals noch ein klares Todesurteil, die Chancen standen gut, dass man sie nicht überlebte. Heute müssen die Umstände schon extrem widrig und schwierig sein, um eine Blinddarmentzündigung nicht zu überleben.

Es gibt Antibiotika, Chemotherapie, Intensivmedizin, Bestrahlung…wir können schon sehr Vieles tun, um den Tod hinauszuzögern, aber am Ende gewinnt er eben doch. Das Leben ist endlich und ich finde, das ist auch gut so. Wenn ich Bilder von den ältesten Menschen der Erde sehe, frage ich mich häufig, ob ich das so für mich selbst wollte. Und häufig lande ich bei einem klaren Nein. Irgendwann ist es auch einfach mal gut.

Ich kann jedem nur raten: nehmt Euch ein wenig Zeit und denkt darüber nach, was für Euch Leben bedeutet. Denkt darüber nach, was Ihr möchtet. Redet darüber mit Euren Partnern und Verwandten. Denn ohne Patientenverfügung und ohne diese Auseinandersetzung damit heißt das im Zweifelsfall auch einfach Dahinvegetieren an Schläuchen und Maschinen.

Und das dürfte für die Wenigsten von uns wirklich lebenswert erscheinen.

Von badidol

badidol wurde 1981 geboren. Er arbeitet seit fast 20 Jahren im und am Internet als Community Manager (fast 15 Jahre beim selben Arbeitgeber), Social Media Manager, Moderator und verkauft dabei Eskimos Kühlschränke. Er spricht fließend Sarkastisch. In der Jugend linke Socke, als junger Erwachsener eher sozialliberal und mittlerweile von konventionellen Schubladen genervt. Atheist, Pragmatiker und Realist.

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